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Das traurige Schicksal von Moritz

Moritz, ein edler Schimmel wie dieser hier, war der grösste Stolz von Josua Gerber. Bild: Helena Lopes


Wie alle Jahre war auch 1947 zur Erntezeit auf dem Weizenfeld vom Unteren Emmenholz Hochbetrieb. Es lief lange gut, bis an jenem verhängnisvollen Sommertag ein Schicksalsschlag die ländliche Idylle durcheinanderbrachte.

Die schwitzende Erntemannschaft war in vollem Einsatz. Die goldenen Ähren auf ihren schmalen, wippenden Halmen wurden mit dem vom Hürlimann-Traktor gezogenen Bindemäher geschnitten und zu handlichen Garben gebunden. Helfer mussten die Garben zu Puppen zusammenstellen. Nun war das Feld frei, um mit dem grossen Pferde­rechen das am Boden verstreute Stroh samt restlichen Ähren noch zu sammeln. Erst nachdem der Rechen das ganze Stoppelfeld abgewischt hatte, durfte die am Feldrand harrende Schar von Ährenaufleser*innen das Feld betreten und die wenigen noch herumliegenden Ähren einsacken.

Die Freigabe der Felder zum Ährenauflesen erfolgte durch den Pächter vom «Unteren Emmenholz», Josua Gerber persönlich. Der stämmige Bauer und Landwirt hatte drei Söhne, die alle auf dem Hof arbeiteten. Wernu war für das Vieh verantwortlich, Willy für die Fahrhabe und Änggu für die Pferde. Gerbers erste Frau war als junge Mutter viel zu früh gestorben. Seine zweite Frau hatte ihm die Tochter Majeli geschenkt, die mit mir zur Schule ging. Die Gruppe um Josua wurde von einem Melker und einem Karrer und zur Erntezeit von einigen Helfern unterstützt.

Der gutmütige Moritz

So ein Helfer war Röbu Bläsi von der «Aarmatt». Er war nur fünf Jahre älter als ich, genoss aber die Gunst von Josua Gerber. Er vertraute nämlich Röbu sein bestes Ross im Stall, den Schimmel Moritz, an. Moritz war ein gutmütiger Wallach, liess sich sowohl reiten als auch anspannen. Er war ein wundervolles, im Vollbesitz seiner Kräfte stehendes Ross mit langem, weissem Schweif und ebensolcher Mähne und grossen, schwarzen Augen. Gerber besass kein Velo, geschweige denn ein Auto. Sein «Fortbewegungsmittel» war sein Moritz, den er sehr liebte und der ihn täglich zum Kontrollritt über die Felder trug. Auch ins Dorf ging Gerber ausschliesslich zu Pferd und alle Leute kannten Ross und Reiter und grüssten beide: «Grüessech Herr Gärber, salü Moritz.»

Dieser edlen Kreatur durfte Röbu den Pferderechen anspannen und mit ihm die abgemähten Kornfelder abwischen, was er mit Stolz und Hingabe tat. Ich stand oft am Rand des Feldes und schaute zu, wie Röbu den Moritz mit sanften Zügen am Leitseil über das Feld lenkte. Röbu schenkte mir vom hohen Schalensitz herab ein knappes «Salü». Mir schoss es gelb ins Gesicht; neidvoll wandte ich mich ab.

Die Erosionsgräben

Wie sah aber das Gelände in Zuchwil nach dem Rückzug der Gletscher wohl aus? Der Geologe gibt Auskunft: Es war die Emme und nicht die Aare, die nach der Eiszeit mit Hochwasser Geschiebe in grossen Mengen herantransportierte und das ebene Dreieck zwischen Aare, Emme und Bleichenberg formte. Es ist geologisch erwiesen, dass die Emme bei Hochwasser bis in die Gegend des Allmendweges reichte, bei Rückgang das Hochwasser zur Aare hinabfloss und dabei Runsen und Entwässerungskanälchen erodieren liess (im Wattenmeer im Norden Deutschlands nennt man diese Erosionsgerinne Priel.) Ich erinnere mich an zwei solcher Abflusstälchen; eines war der Chuchigraben auf dem Areal des heutigen River Side, wo Zuchwil in den Fünfzigerjahren den Küder entsorgte (die Besitzerin hat die Abfalldeponie unterdessen saniert).

Der Acker zwischen dem heutigen Sportzentrum und dem Hof vom Unteren Emmenholz wies vor der zweiten Juragewässerkorrektion noch die ursprüngliche Form mit dem eindrücklichen zweiten Ero­sionsgraben analog dem Chuchigraben auf. Beide waren etwa 150 Meter lang und fünf Meter breit mit Gefälle zur Aare hin und spielten nur bei abfliessendem Hochwasser eine Rolle; sonst lagen sie trocken.

Während der Chuchigraben mit Gehölz überwuchert und das übrige Aareufer zu steil war, war der zweite Erosionsgraben mit Gras überwachsen und zum Wasser zugänglich. Moritz kannte wohl den Ort, denn es war der Graben, an welchem Gerber Änggu jeweils am Samstag seine Pferde zum Striegeln und Tränken brachte.

Der Unfall

Es war ein heisser Julinachmittag, Röbu drehte mit Moritz seine Runden, das Pferd zog willig den Rechen. Sie waren weit und breit allein auf dem Feld, das Volk sass wohl in der Badi Solothurn. Da entschloss sich Röbu, den Schimmel zur Tränke zu führen und lenkte ihn zum Eingang des Grabens. So weit so gut. Moritz zog im Graben den Rechen hinter sich her, erreichte das Aare­ufer und konnte saufen.

Zu spät erkannte Röbu jetzt aber, dass dieses Manöver nicht gut verlaufen konnte und probierte Moritz und Rechen zu wenden. Der Platz war aber zu eng, und Ross und Rechen waren schon im Wasser. Der schwere Rechen drückte den Schimmel mehr und mehr Richtung offene Aare. Röbu versuchte verzweifelt, den Moritz vom Rechen zu lösen, musste sich aber selber ans Ufer retten und zuschauen, wie Moritz in der Aare elendiglich ertrank. Jetzt schlug Röbu Alarm, rannte zum Hof, um Hilfe zu holen. Mit dem Traktor und einem langen Seil zogen sie Moritz ans Ufer und erkannten, dass er nicht mehr lebte.

Der Herr hats gegeben…

Wie ein Lauffeuer ging die Kunde vom traurigen Schicksalsschlag durchs Dorf. Alle trauerten mit Gerbers um den schönen Schimmel und bedauerten Röbu, dem so etwas passieren musste. Und erst Josua Gerber: Er verlor seinen Liebling, seinen einzigartigen Freund, sein grosses Glück. Trotzdem hegte er keinen Groll gegenüber dem traumatisierten Röbu, sondern hielt seine schützende Hand über ihn und sorgte dafür, dass ihm kein Härlein gekrümmt wurde. Warum? Josua Gerber war ein frommer, gottesfürchtiger und religiöser Mann, der eifrig dem biblischen Hiob nachlebte: Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gepriesen.

Noch heute, wenn mir ein Schimmel begegnet, kommt mir der stolze Moritz in den Sinn. Alfons Vitelli

 

Über die Geologie von Zuchwil und wie die Landschaft nach der Eiszeit wahrscheinlich geformt wurde, gaben mir die Herren Pieter Ouwehand und Thomas Kippel von der Wanner AG Solothurn, Geologie und Umweltfragen, bereitwillig und kompetent Auskunft. 
Herzlichen Dank!


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