Wasserschlacht im Schulzimmer

Die Klasse von Werner Borer im Jahr 1949. Der Autor, im hellen Pullunder, steht direkt neben dem Lehrer. Bild: zvg

Zu mire Buebezyt hatte ­Zuchwil nur zwei Schulhäuser, das Linden­schulhaus (heute Osttrakt des ­Gemeindehauses) und das ­Pisoni- Schulhaus. Die vierte, fünfte und sechste Klasse sowie die zweite ­Bezirksschule absolvierte ich im Pisoni, in dieser altehrwürdigen, türmchengekrönten Wissensburg.

Zuchwil hatte damals gerade mal zehn Lehrer, alles Herren. Erst meine Schwester mit Jahrgang 1939 hatte eine Lehrerin, Fräulein Henzi. Sie war die erste Lehrerin im Dorf und wurde noch an der Urne gewählt.

Mein Lehrer der fünften und sechsten Klasse war Werner Borer. Er kam aus Grindel im Schwarzbubenland und war nicht nur als Mitglied der Studentenverbindung Arion Solodorensis grosser Sänger vor dem Herrn. Er leitete mehrere Chöre als Dirigent, so auch den katholischen Kirchenchor und gründete mit uns im Pisoni ein Kinder­chörli. Da lernte ich die Lieder von Josef Reinhart kennen, wie «Der Heimatvogel» oder «Lueg nit verby», sowie das Rütlilied, das bei uns Schülern fast zur Landeshymne wurde.

Höhepunkt im Jahr war aber für mich, dass Werner sein Kinderchörli jeweils zur weihnächtlichen Mitternachtsmesse abschleppte, wo wir gemeinsam mit dem Kirchenchor, das «Adeste fideles» singen durften. Das war immer «zum Gränne» schön.

Eine Stunde ohne Aufsicht

Es war üblich, dass die Lehrer die Klassen manchmal alleine arbeiten liessen, wenn sie zu einer Kurzkonferenz zusammentraten. Eines Tages aber kündigte Werner an, dass er beim Erziehungsdepartement in der Stadt antraben müsse und wir die letzte Stunde am Nachmittag selbstständig arbeiten müssten. Er fütterte uns mit «Büetz», Aufsatz schreiben und Rechnungen schieben, es hätte für ein ganzes Jahr gereicht und das alles bei strengster Ruhe. Auch drohte er mit «Tätsch» und «Tatzen» falls etc.. Wir wussten also, was zu tun ist, und er entwich.

Zuerst war alles ruhig, wir krampften wie die Wilden und alle hüteten wir uns, die befohlene Regel, absolutes Schweigen einzuhalten, zu brechen! Das Schulzimmer dampfte, die Spannung stieg – und plötzlich brach Bruno Glutz das Schweigen und fluchte ohne Hemmungen, dass ihm nun schon der zweite Bleistiftspitz abgebrochen sei. Die Mädchen warnten mit kräftigem Zischen, scht, scht das Silentium doch nicht zu brechen, aber wir Buben lachten schallend heraus in der Meinung, wenn Bruno spricht, darf jeder andere auch. So kehrte das heimelige Sprachgewirr ins Schulzimmer zurück.

Damit nicht genug: Willy Häberli trat nun zur Wandtafel und löschte mit pflötschnassem Schwamm das vom Lehrer aufgetragene Arbeitsprogramm. Das wurde von vielen Schülern nicht hingenommen, und sie reklamierten lautstark, denn sie wussten nicht mehr, welche Rechnungen auf welcher Seite zu lösen wären. Es gab sofort tumultartigen Rumor. Es bildeten sich zwei Gruppen: Vorne die mit nassen Schwämmen ausgerüsteten Sechstklässler und hinten die verteidigenden Fünftklässler.

Ein Bild der Verwüstung

Nun flogen wassergetränkte Schwämme hin und her, die Pulte wurden verschoben um besseren Schutz zu bieten, der Papier­korb kippte, der ins Kampfgeschehen einbezogene Spucknapf des Lehrers gab seinen grausigen Inhalt her, der Luftbefeuchter wurde umgestossen und entleerte sich, die Reservekreiden wurden zu Wurfgeschossen, die Lampen hingen schon schräg und überall war Wasser. Am Boden, an den Wänden, an den Fenstern, auf den Pulten und mittendrin ich, hinter dem Pultdeckel in der Abwehrposition schlotternd vor Schiss, wohl ahnend, dass das nicht gut kommen wird.

Und da kam es schon, das Unheil: Der Abwart, Kipfer Fritz, riss plötzlich mit erhobenen Fäusten die Türe auf und verdreschte den Erstbesten. In Windes­eile verdufteten wir vom Schlachtort und liessen den Abwart alleine im verwüsteten Schulzimmer zurück.

Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Was ist zu tun, um der unausweichlichen Tracht Prügel zu entgehen oder deren Wirkung wenigstens etwas einzudämmen? Da kam ich auf die wunderbare Idee, dass wohl ein Stücklein Karton zwischen Füdlibacken und Unterhose die nötige Dämpfung bringen könnte. So sah man mich am frühen Morgen, heimlich mit Schere und Karton hantieren, um ein Stücklein Polster in die nötige Form und Grösse zu bringen und – schwupp – verschwand das unheilverhütende Requisit in meiner Unterhose.

Die Rächer mit dem Haselstock

Seltsam war der Schulgang an jenem Morgen, aber ich schritt voll Zuversicht voran. Werner und Fritz, die beiden Rächer, standen an der Türe des Pisoni mit hochgekrempelten Ärmeln schon bereit und Fritz deutete dem Werner jeden eintreffenden Sürmel an, der den Haselstock zu spüren habe. Ich also mittendrin im Sinne von «mitgegangen, mitgefangen» und war, wie alle andern, der Willkür des Lehrers ausgesetzt. Dieser ging entschlossen ans Werk und verdrosch die Buben seiner Klasse, während die Mädchen zuschauen mussten. Man stelle sich vor: Jeder, der Prügel bekam, musste vor die ganze Klasse treten, sich bäuchlings auf den bereitstehenden Stuhl legen, der Lehrer stand mit dem Stock bereit, packte das Opfer mit der Linken am Gürtel und zog ihm den Hosenboden stramm. Der Geschlagene schrie und weinte und der Lehrer polierte dem Opfer mit dem Stock in der Rechten kalt den Hintern.

Unerwartete Wende

Zuerst kam der Halbwaise Seppi Hubler dran, bei dem Werner nicht zu befürchten hatte, dass Seppis Stiefmutter sich gross für ihn einsetzen würde. Der zweite war Bruno Glutz, der Anführer der Sechstklässler. Er bezog die Streiche mit Fassung. Danach kamen die Sechstklässler dran, einer nach dem andern, mit Ausnahmen. Und plötzlich unerwartet die Wende: Werner stellte die Drescherei abrupt ein, er hatte wohl selbst genug vom Dreinschlagen. Wir Fünft­klässler blieben, oh Wunder, verschont, die Misere war überstanden, meine Abwehrmassnahme und geniale Erfindung wurde nicht getestet. Die Klasse fand nach diesem Wirbelsturm nur mit Mühe in den Schulalltag zurück.

Meine Erinnerungen ans Pisoni sind also nicht nur mit eitel Freude gepflastert.

Alfons Vitelli

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